Sie durfte fürwahr abtreten
Von David Noll GNZ 12.10.2021
Gelnhausen. Elfriede Marianne Seipp ist gestorben. Eine Nachricht, so knapp, so bescheiden. Vermutlich so, wie sie es sich selbst für einen Nachruf gewünscht hätte. Dabei hat es Elfriede Seipp verdient, dass ihr Tod deutlich mehr Aufmerksamkeit erfährt. Bereits Ende September ist sie wenige Tage vor ihrem 97. Geburtstag friedlich in ihrem Haus in Gelnhausen eingeschlafen. Auch das hätte, nein, auch das hat sie sich so gewünscht. Mit ihrem Tod verliert die Stadt Gelnhausen und die gesamte Region eine Frau, die noch im hohen Alter mit Herzblut, Leidenschaft und einer kaum vergleichbaren Beharrlichkeit für die Themen gekämpft und gestritten hat, die ihr wichtig waren. Für Elfriede Seipp waren das vor allem der Umweltschutz, eine gerechtere Welt im Großen wie im Kleinen und, natürlich, ihr letztes Herzensprojekt: ein Hospiz im Kinzigtal.
Zu sagen, Elfriede Seipp sei ein durch und durch politischer Mensch gewesen, würde ihr nicht gerecht. Obwohl es stimmt, sie war ein politischer Mensch, im besten Sinne. Aber es waren gerade die vermeintlich große Politik, das Suchen von (faulen) Kompromissen im Hinterzimmer, das Postengeschacher, die Machtspielchen, die für Elfriede Seipp nie eine Option gewesen sind, ja, über die sie stets die Nase rümpfte. Für sie ging es in der Politik um etwas ganz anderes: um das Praktische, um die Themen, direkt vor der Haustür, die die Menschen jeden Tag betreffen. Und um die Themen, die die Menschen zwar direkt betreffen, derer sie sich im Alltag aber selten bewusst sind.
Auch deshalb hat Elfriede Seipp nie den Weg in eine der etablierten Parteien gefunden. Stattdessen tat Elfriede Seipp das, was sie in ihrem Leben so oft getan hat: Sie nahm die Dinge selbst in die Hand. 1992 gründete sie gemeinsam mit Bodo Delhey die Wählergruppe „Bürger für Gelnhausen“, deren (Fraktions-) Vorsitzende sie jahrelang war. „Wir haben uns als freie Wählergemeinschaft zusammengetan, um eine bürgerorientierte, soziale und ökologische Politik realisieren zu können“, lautete damals das Motto von Elfriede Seipp und ihrer Mitstreiter. Und so handelte sie, in der Stadtpolitik, aber auch außerhalb, etwa im BUND, dessen Gelnhäuser Ortsgruppe sie ebenfalls viele Jahre lang leitete.
Wer Elfriede Seipp erlebt, mit ihr über politische Themen diskutiert, gerne auch gestritten hat, der konnte schnell einen falschen Eindruck von ihr bekommen: Ja, Elfriede Seipp war streitlustig, sie war beharrlich, teilweise bis zur letzten Konsequenz, und sie war unbequem. Aber all das war Elfriede Seipp nie, weil sie ein destruktiver Mensch war, der den (politischen) Streit des Streites wegen gesucht hat. Im Gegenteil, wenn Elfriede Seipp für etwas gestritten hat – und sie hat es oft getan –, dann hat sie stets für eine Sache gestritten, von der sie aus vollem Herzen überzeugt war. Tatsächlich konnte sie dabei eine diebische Freude entwickeln, Energie aus einer politischen Auseinandersetzung ziehen, auch wenn es sie selbst oft auch viel Energie kostete.
Bei all ihrem Tatendrang, ihrem fast unbändigen Willen und Sinn für das Setzen und Ausfechten politischer Themen darf eine andere Seite des Menschen Elfriede Seipp nicht vergessen werden: Ja, man musste ein ganzes Stück bohren, und einigen Weggefährten dürfte dies nie wirklich gelungen sein, aber unter der sprichwörtlich harten Schale schlug in Elfriede Seipp ein weiches, ein warmes Herz. Selbst in ernsten Gesprächen konnte es sich von einem auf den anderen Moment in einem ganz typischen Lächeln durchschlagen, das dann mitunter auch etwas Schelmisches hatte. Denn auch Humor hatte Elfriede Seipp, einen feinen Sinn für Ironie, gerne auch für Selbstironie.
Mit steigendem Alter hatte sich Elfriede Seipp zunehmend aus der (Stadt-)Politik zurückgezogen. Nur um dann bei einem ganz anderen Thema wieder mit voller Kraft zurückzukehren. Im Jahr 2013 war es, dass sich Elfriede Seipp mit drei Mitstreiterinnen, Olga von Lilienfeld-Toal, Hannelore Koperski und Stefanie Ross, zusammenschloss, um in der Region ein Projekt zu verwirklichen, dessen Bedarf zwar unstrittig war, von der Politik aber nie wirklich angegangen wurde: einen Ort zu schaffen, an dem ein würdevolles und möglichst schmerzfreies Sterben möglich ist, ein Hospiz.
In einer Beharrlichkeit setzten sich die vier Frauen für eine Idee ein, anfangs noch von vielen belächelt, die ihresgleichen sucht. Nicht zuletzt Elfriede Seipps Erfahrung und ihrem Talent in der politischen Auseinandersetzung ist es zu verdanken, dass aus der Idee tatsächlich Wirklichkeit wurde: Im Mai 2017 eröffnete im Gebäude des ehemaligen Kreisruheheims Gelnhausen das Hospiz St. Elisabeth Kinzigtal. In seiner Traueranzeige schreibt der Vorstand des Hospizförderkreises: „Das über 100 Jahre alte Hospiz-Gebäude ist auch ein Denkmal für Elfriede Marianne Seipp.“ Treffender kann man es nicht formulieren.
Mit ihrer eigenen Sterblichkeit hatte Elfriede Seipp schon lange ihren Frieden gemacht. In einem GNZ-Interview vor der Hospiz-Eröffnung sagte sie auf die Frage nach der Angst vor dem Tod: „Für mich gehört der Tod zum Leben dazu. Im Moment bin ich noch sehr gerne hier. Aber wenn ich es leid bin, darf ich auch abtreten.“