Emotionale Ortsbegehung im „Mittlauer Weg“: Anwohner stellen Kompromissvorschläge vor

Zwischen Giftpfeilen und einem Hauch von „Wind of Change“

Von Matthias Boll Samstag, 10. September 2022 GNZ

Die Gräben im Mittlauer Weg sind nach wie vor tief. Das hat der Ortstermin am Donnerstagabend mehr als deutlich gezeigt. Auch wenn die Diskussion in weiten Teilen sachlich verlief, so flogen doch einige Giftpfeile aus dem Lager der bevorteilten Anwohner in Richtung der benachteiligten Anwohner, die zumindest bei der Ortsbegehung des Bauausschusses im Meerholzer Neubaugebiet eindeutig in der Minderheit waren. Unrühmlicher Höhepunkt des Abends war die verbale Entgleisung einer aufgebrachten Grünflächen-Käuferin, die einen anderen Anwohner anschrie und drohte, „ihm gleich eine reinzuhauen“. Jenseits aller persönlichen Anfeindungen war aber auch zumindest am Ende des Ortstermins so etwas wie der leichte Hauch eines „Wind of Change“ wahrzunehmen, der durch den Mittlauer Weg wehte.

Kompromissbereit – das war das wahrscheinlich am häufigsten benutzte Wort am Donnerstagabend. Die Käufer und Pächter der öffentlichen Grünflächen im Mittlauer Weg gaben sich große Mühe, den Vertretern der Stadtpolitik zu signalisieren: Sie sind bereit, etwas von ihrem erworbenen Eigentum abzugeben, um der Allgemeinheit im Neubaugebiet etwas Gutes zu tun. Sie sind kompromissbereit.

Ein zweiter Kernpunkt: ihre große persönliche Betroffenheit. Eindringlich schilderten verschiedene Begünstigte der Grünflächenverkäufe, welche Folgen das Festhalten der Stadt am gültigen Bebauungsplan für sie hätte. Dann könnte am Ende des ordnungsbehördlichen Verfahrens, das die Untere Bauaufsicht im März 2022 eingeleitet hat, nämlich eine Verfügung zum Rückbau von Einfriedungen, Zäunen und Gartenhütten entlang der öffentlichen Grünflächen stehen – Anlagen, die sie mit ausdrücklicher Erlaubnis der Stadt errichtet haben. Das wiederum würde immense Kosten für die Betroffenen nach sich ziehen, die locker in den fünfstelligen Bereich gingen. Ein Betrag, der „einigen das Genick brechen könnte“, wie ein Anwohner schilderte. Deshalb also nun die große Kompromissbereitschaft, die – so war zumindest hinter vorgehaltener Hand zu vernehmen – einige der Beteiligten im gescheiterten Mediationsverfahren offenbar noch hatten vermissen lassen.

Wie diese Kompromisse aussehen könnten, das hatten die Anwohner in sogenannten Planungswerkstätten erarbeitet, zu denen Bürgermeister Daniel Glöckner eingeladen hatte. Seine neue Rolle als Vermittler im Mittlauer Weg versetzte ihn aber offenbar nicht in die Lage, an der Ortsbegehung teilzunehmen, in der die Ergebnisse „seiner“ Planungswerkstätten vorgestellt werden sollten. Auch sonst war am Donnerstagabend niemand aus der Stadtverwaltung anwesend, wie Mario Röder (BG), Vorsitzender des Bauausschusses, zu Beginn des Ortstermins mit Bedauern festgestellt hatte. Mit Stadträtin Claudia Dorn (SPD) war zumindest eine Vertreterin des Magistrats anwesend.

Eine Mehrheit in der Minderheit

Mario Röder hatte bei seiner Begrüßung auch an die Teilnehmer der Ortsbegehung appelliert, „bei einem emotional aufgeladenen Thema sachlich zu bleiben“. Das sollte über weite Teile des Abends auch gelingen, obwohl eine gewisse aufgeheizte Grundstimmung durchaus greifbar war und sich vereinzelt Bahn brach. So musste sich ein Anwohner nach seinem Vorschlag zu einer höheren Grundsteuer auf die Grünflächen die Frage gefallen lassen: „Wie kommt man auf die Idee, so etwas Beschissenes in seinem Kopf zu produzieren?“ Eine andere kritische Stimme gegenüber den Vorschlägen aus den Planungswerkstätten versuchte eine aufgebrachte Frau zum Schweigen zu bringen, indem sie den Mann anschrie: „Jetzt ist aber hier endlich mal Ruhe! Sonst ist hier aber gleich was los!“ Um dann, immer noch aufgewühlt, in Richtung ihres Ehemannes für alle deutlich hörbar hinzuzufügen: „Ich hau‘ dem echt gleich eine rein!“ Solche oder ähnliche Aussagen blieben aber zum Glück die Ausnahme.

Nichtsdestotrotz hatten die Teilnehmer der Ortsbegehung, die keine Grünflächen gepachtet oder gekauft haben und damit der überwiegenden Mehrheit im Neubaugebiet angehören, einen schweren Stand. Am Donnerstag bildeten sie nämlich nur eine kleine Minderheit der knapp 40 Anwohner, die erschienen waren. Die ungleiche Verteilung zwischen bevorteilten und benachteiligten Anwohnern an diesem Abend lag wiederum in der Natur der Sache. Zu den drei Planungswerkstätten waren nämlich explizit nur die Käufer und Pächter von Grünflächen eingeladen gewesen. Die große Mehrheit der Bürger im Neubaugebiet war außen vor geblieben – ein Umstand, der auch am Donnerstagabend für reichlich Kritik sorgte. So stellte einer der Teilnehmer fest, dass die Grünflächenbesitzer die Kompromisse unter sich ausgemacht hätten. Was aber die Mehrheit der Anwohnerschaft davon hält, habe bislang keine Rolle gespielt. Dieser Punkt müsse aber unbedingt noch in die Überlegungen der Stadtpolitik einbezogen werden, forderte er. Es könne nicht sein, dass die Ergebnisse der Planungswerkstätten nun in den parlamentarischen Geschäftsgang eingebracht würden, ohne dass die Meinung der großen Mehrheit im Neubaugebiet dazu gehört würde.

Ein Kritikpunkt, der nicht neu ist. Bürgermeister Glöckner hatte dazu im April 2022 auf GNZ-Anfrage mitgeteilt, dass es zunächst einmal darum gegangen sei, mit den direkt Betroffenen nach Lösungen zu suchen. „In einem zweiten Schritt sollen dann alle – wie seinerzeit im Verfahren des Runden Tisches – in einer Anwohnerversammlung einbezogen werden“, hatte Glöckner damals betont. Ob ein solcher Termin noch stattfinden wird, hätte der Bürgermeister sicherlich am Donnerstag beantworten können, wenn er denn da gewesen wäre. So blieb dieser Punkt offen.

Keine blutigen Nasen

Analog zu den drei Planungswerkstätten führte die Ortsbegehung den Bauausschuss zu den Grundstücken an der Kreisstraße, zum Mittelstreifen im Neubaugebiet und zum Spielplatz an der Lärmschutzwand. An der Kreisstraße wollen die Anwohner einen circa fünf Meter breiten Streifen der Grünflächen an die Stadt zurückgeben, damit dort die Möglichkeit bestünde, eine Lärmschutzwand zu errichten. Das würde dem gesamten Neubaugebiet zugutekommen. Die Stadt war bei ihren Planungen nämlich fälschlicherweise von einem Tempolimit von 50 Kilometern pro Stunde an der Kreisstraße ausgegangen – das lässt sich aber dort nicht realisieren, wie die Verantwortlichen inzwischen festgestellt haben. Deswegen wird dort auch weiterhin Tempo 70 gelten, was sich natürlich auf die Lärmemissionen im Mittlauer Weg auswirkt. Ein neues Lärmschutzgutachten sei in Auftrag gegeben, informierte Mario Röder.

Einen fünf Meter breiten Streifen zurückzugeben ist für die Anwohner am Mittelstreifen des Neubaugebietes indes keine ernsthafte Option, wie sie deutlich machten. Das Problem: Die Häuser sind teilweise so geplant und gebaut, dass die Baufenster der relativ kleinen Grundstücke optimal ausgenutzt sind. Will heißen: Wenn sie fünf Meter zurückgeben, bleibt ihnen wenig bis gar kein Garten. Sie zeigten sich aber aufgeschlossen für gestalterische Elemente, eine einheitlichere, offenere Einzäunung der Grünflächen oder auch das Versetzen von Gartenhütten und Spielhäusern. Auch pflegerische Leistungen, das Pflanzen von Bäumen oder ein finanzieller Ausgleich wurden in Erwägung gezogen.

Die größten Grünflächen-Grundstücke gibt es entlang der Lärmschutzwand. Auf den noch freien „Inseln“ könnte eine Obstwiese angelegt werden, so ein Vorschlag der Anwohner. Zudem könnten sie vertraglich geregelte Pflegepatenschaften übernehmen, um den Bauhof zu entlasten. Ein parzelliertes „Community-Feld“ zur gärtnerischen Nutzung für die Allgemeinheit und ein gestalteter Platz für die Jugend waren weitere Ideen der Anwohner. Sie würden sich aber auch dazu bereit erklären, im Zweifelsfall fünf bis zehn Meter breite Streifen an die Stadt zurückzugeben, auch wenn das dem einen oder anderen angesichts der investierten Arbeit „das Herz brechen würde“. Den Mehrwert für die Allgemeinheit halten sie in diesem Fall für sehr überschaubar. Dann doch lieber Bäume pflanzen auf den verbliebenen 21 000 Quadratmetern verbliebener Grünfläche.

Am Ende der Ortsbegehung hatten noch einmal die Anwohner das Wort. „Jeder will Kompromisse eingehen, jeder will hier in Frieden leben. Wir sollten nicht nur an uns denken, sondern auch im Sinne unserer Kinder entscheiden“, appellierte die eine Seite. Und die andere Seite goutierte, seitens der Grünflächenbesitzer „zum ersten Mal ein kleines ‚Wir bewegen uns ein bisschen‘“ wahrgenommen zu haben. Gleichwohl bleibe ein „starkes Gefälle“ und nach wie vor das Gefühl, von der Stadt betrogen worden zu sein.

In einer weiteren Sitzung will der Bauausschuss nun über die Erkenntnisse aus der Ortsbegehung beraten. Diese zu beenden war wiederum dem Ausschussvorsitzenden vorbehalten: Mario Röder zeigte sich erfreut, dass es trotz aller Emotionalität gelungen sei, den Ortstermin halbwegs störungsfrei über die Bühne zu bekommen und „niemand mit einer blutigen Nase nach Hause kommt“. Unter vorsichtigem Applaus von allen Seiten gingen die Anwohner schließlich auseinander.

KOMMENTAR

Es ist ein Jammer, was sich im „Mittlauer Weg“ abspielt, und das inzwischen schon seit Jahren. Da haben junge Familien in der Regel hohe Kredite aufgenommen, um sich ihren Traum vom kleinen Eigenheim zu erfüllen. Aufgewacht sind sie in einem Alptraum, der kein Ende nehmen will. In einem Neubaugebiet, in dem sich Anwohner feindlich und misstrauisch gegenüberstehen und sich persönlich beleidigen.

Die einen fühlen sich zurecht von der Stadt bei der Grundstücksauswahl verschaukelt und betrogen und fordern eine Wiedergutmachung für etwas, das eigentlich nicht wieder gut zu machen ist. Die anderen fürchten um ihre Zäune, Gartenhütten und Spielhäuser, die sie im guten Glauben auf den öffentlichen Grünflächen errichtet haben. Sie haben Angst, dass ein im Raum stehender Rückbau sie unverschuldet einen fünfstelligen Betrag kosten könnte. Gegenseitig beschuldigen sich die beiden Lager, verantwortlich an der ganzen Misere zu sein. Verantwortlich ist aber weder die eine noch die andere Seite der Anwohnerschaft. Schuld an diesem Dilemma ist alleine die Politik, genauer gesagt die damaligen und heutigen Entscheidungsträger im Gelnhäuser Rathaus.

Der ehemalige Bürgermeister und heutige Landrat Thorsten Stolz (SPD) und sein ehemaliger Bauamtsleiter und SEG-Geschäftsführer, gegen den die Staatsanwaltschaft Hanau in dieser Angelegenheit derzeit ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs und Urkundenfälschung führt, haben der Anwohnerschaft das ganze Schlamassel eingebrockt. Sie haben mit ihren fehlerbehafteten Entscheidungen eine Minderheit bevorteilt und damit die Mehrheit benachteiligt. Damit haben sie den Grundstein für den Unfrieden im Neubaugebiet gelegt. Und Stolz‘ Nachfolger Daniel Glöckner hatte – gemeinsam mit seiner FDP und Stolz‘ SPD – der Aufklärung in der Causa Mittlauer Weg über Jahre eher hinderlich als förderlich gegenüber gestanden, ehe er zuletzt in die Rolle des Vermittlers geschlüpft war. Damit hat er, gemeinsam mit seinen Unterstützern, einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, dass die Lösung der Probleme verschleppt wurde und der Unfrieden sich immer weiter ausbreiten konnte.

Da passt es ins traurige Bild, dass am Donnerstagabend keiner der Verantwortlichen an der Misere im Mittlauer Weg anwesend war, während sich die Bewohner wieder einmal in den Haaren lagen. Freilich war weder davon auszugehen, dass der Ex-Bauamtsleiter als interessierter Beobachter dort vorbeischaut, noch dass Landrat Stolz seine Aufwartung macht. Aber zumindest die Anwesenheit von Bürgermeister Glöckner hätte der geneigte Beobachter angesichts der Vorgeschichte und Tragweite des Themas vorausgesetzt, zumal er sich in seiner neuen „Vermittler“-Rolle zuletzt durchaus zu gefallen wusste. Allein das Rathaus glänzte durch Abwesenheit.

Trotz der teilweise aufgeheizten Stimmung und der persönlichen Anfeindungen gab es aber auch einen Silberstreif am Horizont. So war es kein Zufall, dass es am Ende des Ortstermins verhaltenen Beifall von allen Seiten gab.

Allen Beteiligten war klar gewesen, dass sie nicht die eine Lösung an diesem Abend finden werden. Aber die vorgeschlagenen Kompromisse könnten tatsächlich einen Mehrwert für das Neubaugebiet bedeuten und damit der Allgemeinheit zugutekommen, auch wenn unter dem Strich der Nutzen aufseiten der 29 Käufer und Pächter der Grünflächen sicherlich größer wäre als auf der anderen Seite der übrigen rund 120 Familien im Mittlauer Weg. Obwohl bei dem einen oder anderen daher ein fader Beigeschmack bleiben dürfte, so wäre es doch wünschenswert, dass die Kompromissvorschläge auf fruchtbaren Boden fallen. Es ist an der Zeit, dass das Neubaugebiet endlich zur Ruhe kommt und Frieden in den Mittlauer Weg einkehrt. Ein erster kleiner Schritt ist gemacht, weitere größere müssen noch folgen.